1.

Bernhard Weinmann ist ein inhaltlicher Netzwerker, ständig auf der Ausschau nach Partnern und Kooperationen für „Menschenbildung im Gemeinwesen“– und gut für diese, wenn sie jemand wie ihn dabei haben. Bernhard schaute immer über den Tellerrand hinaus. Schule war für ihn Schule ein entscheidender Ort für „Menschenbildung“ –  war seit 1985  Lehrer an der Martin Luther King Schule, frühere SchülerInnen erzählen von ihm immer weiter  mit Liebe und Hochachtung. Für Bernhard war einfach klar:  In der Schule verbringen Kinder und Jugendliche ihre meiste Zeit in wesentlichen Phasen ihres Heranwachsens und Reifens; Schule muss daher menschlich sein und ein Leben auch im Stadtteil erschließen. Sein unermüdliches Reden und Handeln war davon bestimmt: Schule und „community“ müssen bei „Menschenbildung“ zusammen arbeiten.

Er suchte in diesem Sinn Partner und er fand Partner in der CIAG Marl (=Christlich-Islamische Arbeitsgemeinschaft Marl), die in der Fatih-Moschee Marl am 17.3.1994 den „Goldenen Hammer“ von SOS Rassismus/Aktion Courage durch Dr. Herbert Schnoor erhalten hatte. In der Auszeichnung schrieb und sagte dieser ungewöhnliche NRW-Innenminister Herbert Schnoor: „Frieden in der Stadt ist möglich, wo Menschen beginnen, das Leben zu begreifen…mit den Händen, den offenen Augen, einem ehrlichen Mund, einem wachen Ohr…mit allen Sinnen eben, die uns Menschen auszeichnen“. Bernhard mahnte allerdings:  „Wir dürfen uns über diese Auszeichnung nicht zur Ruhe setzen, wir müssen damit etwas unternehmen“. Er war damals bereits aktiv in der CIAG Marl und so fragte er, wie diese Auszeichnung als gemeinsames  Engagement von Schule und CIAG Marl zur Überwindung von Rassismus auf Dauer gestellt werden könne. Weil wir als CIAG Marl auch starke schulische Kooperationsnetze entwickelten, hatten wir Glück: er gehörte zu den aktivsten schulischen Kooperationspartnern der CIAG Marl in all den Jahren. Es wurde eine wechselseitige Wertschätzung und Praxis. – Bernhard hatte bereits 1993 in der Schule ein großes Spielfest „Spiele ohne Grenzen“ organisiert (und mit von der Partie war auch Hermann Dorpmund, in der Stadt Marl zuständig für alles Besondere, der sich in der Stadtverwaltung und bei systematischen Hausbesuchen in Marl-Hamm und Marl-Hüls  für den Neubau der Fatih-Moschee erfolgreich eingesetzt hatte und unter dem Motto „Fremde Freunde“ die Bevölkerung ins Rathaus eingeladen hatte – angesichts von Fremdenfeindlichkeit in Hoyerswerda 1991, von Feuerbrand und Morden in Solingen am 29.5.1993 usw. )

„Wir müssen die Kids in ihrem frühen Alter erreichen und das geht nur in Schulen“. Bernhard initiierte den 1. Antirassismustag am 21.3.1995 unter dem Motto „Mut tut gut“ in der Scharounschule, Bernhard nach Rücksprache mit der Martin Luther King Schule und ich unterstützte nach Kräften im Namen der CIAG Marl. Zum 21.3.1995 luden wir – ein ganzes Team von Überzeugten – die 10er aus den Schulen in Marl nachmittags in die Scharounschule ein. Ein Erfolg! Und es gelang uns immer besser, in allen Schulen Marls Lehrkräfte als beständig wirkende „Schulpaten“ zu gewinnen. Am 2. Antirassismustag am 20.3.1996 nahmen alle Schulen mit 10ern teil. Seit dem 3. Antirassismustag am 19.3.1997 verlegten wir den Antirassismustag der Marler Schulen jeweils auf einen Mittwoch vormittags und luden von jeder Schule jeweils eine ganze Schulklasse vom  Jahrgang 6 ein. Auf Bernhards Anregung war das verbunden mit einem Musikwettbewerb, der über einen längeren Zeitraum und an verschiedenen Orten das Thema lebendig machte. Ich vergesse nicht, wie froh Bernhard war, als er die in Deutschland anerkannte MusikpädagoginProfIn Irmgard Merkt (UNI Dortmund) als Jurorin dieses Musikwettbewerbs gewinnen konnte. Bis 2001 hatte Bernhard die Fäden in der Hand, es ging ihm immer um mehr als nur einen einzigen Tag im Jahr und immer neue kreative Ideen für „Nachhaltigkeit“ wurden geboren und  bei jedem der zahlreichen Vorbereitungstreffs bot Bernhard uns seinen selbst gebackenen Kuchen im Lehrerzimmer in der Scharounschule an. (Und mir persönlich wurde diese Scharounschule Marl durch diese Antirassismus-Aktivitäten ab 1993 sehr vertraut, so dass ich mich mit anderen zusammen verpflichtet fühlte, ab 2005  im Initiativkreis zum Erhalt der Scharounschule aktiv und letztendlich erfolgreich beizutragen.)  

Ab 2002 zog sich Bernhard zurück, er musste kürzer treten. Die Regie für den Antirassismustag blieb in der MLK und ging hier über zu Klaus-Dieter Hein, bald im Tandem mit Sylvia Dobala und heute mit Johanna Pesch. Und seit 2007 findet dieser AntiRaTag in der MLK Martin Luther King Schule (Georg Herweghstrasse).

Ohne Bernhard Weinmanns unermüdliche Energie Tag-und-Nacht und ohne seinen Reichtum an Ideen, ohne seine Überredungskunst in der Ansprache weiterer Aktiver, ohne sein „networking“ bis hin zu dem unvergesslichen beharrlich-kreativen Integrationsbeauftragten NRW Dr. Klaus Lefringhausen (der Bernhard als „den schulischen Fachmann aus Marl von der Basis“ sehr schätzte) wäre das ganze nicht in Fahrt gekommen und auf Kurs geblieben, bei allem Rückhalt in Schulen, im Rathaus und natürlich in der CIAG Marl, letztere war viele Jahre lang Bernhards geistige Heimat.

2.

Nach dem fürchterlichen Erdbeben in der Marmara-Region/Türkei am frühen Morgen des 17.8. 1999 trafen wir uns umgehend am 18.8. in der Fatih-Moschee als „Marler Aktionskreis Erdbebenhilfe Türkei“, verabredeten uns dort erneut für den Folgetag und dann ging es Woche-für-Woche engagiert weiter. Immer mit Bernhard Weinmann ideenreich in Aktion.  Sachspenden wurden in der Fatih-Moschee und im Rathaus abgegeben. Spendenkonten wurden eingerichtet, am 3. 9. waren schon über 40.000 DM gespendet, am Ende waren es 117.000 DM! Die Zeche Auguste Victoria schickte sofort die Grubenwehr ins Erdbebengebiet. Die Paracelsusklinik entsandte umgehend die junge Ärztin Sebahat Sat ins Erdbebengebiet und kurierte später kostenlos Menschen von dort, die durch Erdbeben verletzt waren. Ein Benefiz-Konzert in der Willy Brandt Gesamtschule am 18.9., ein weiteres im Theater Marl mit der Philharmonia Hungarica am 1.10., eine enorme Hilfsbereitschaft und ständig aktuelle Bilder und Infos auch dank der Familienbande zwischen der Türkei und Marl. Sammlungen in der Zeche und in der Chemie, in Schulen, religiösen Gemeinden. Bernhard Weinmann schaltete sich mit seinen schulischen Möglichkeiten, Jugendliche für Solidarität zu begeistern, sehr aktiv ein. Gefragt und geklärt werden musste: Wohin geht die Solidarität aus Marl und auf welchem direkten Weg? Wir wollten es selber überbringen und kontrollieren. Eine erste Delegation mit Mustafa Akpinar (Vorsitzender des damaligen Ausländerbeirates Marl), Ibrahim Bayram (Kuba-Moschee für alle Moscheen in Marl), Adnan Saglik (vom Intercent)und Hartmut Dreier (für die CIAG Marl) fuhr 21. – 28.9.1999 über Istanbul nach Adapazari circa 80km östlich von Istanbul, diese Stadt war zu 80% Erdbeben-zerstört und beklagt wurden 40 000 Tote. Hier überzeugte uns die Ehrlichkeit des dortigen Sozialarbeiters Nurreddin Yilgin und seiner Familie (als Erdbebenopfer lebten sie zu viert wochenlang in einem Peugeot-Kastenwagen) und des dortigen Oberbürgermeisters Aziz Duran, der uns sehr herzlich empfing, uns die Stadt öffnete und Nurreddin Yilgin an die Seite stellte, im wohltuenden Kontrast zur bürokratischen Förmlichkeit des Gouverneurs und seines Krisenstabs, die uns keinen Sitz anboten, unser mitgebrachtes Geld verlangten und nicht mal einen Tee für uns hatten. –  Der Marler Aktionskreis initiierte nach unserer Rückkehr eine breite Kampagne „Freundschafts-Päckchen“ für besonders betroffene arme Familien, samt Briefwechsel und Lernmaterialien für dortige Schulkinder. Dank der Kreativität von Bernhard Weinmann (und Almuth Dreier) wurde es eine sehr kindgerechte Kampagne: Schuhkartons mit einem Plüschtier und Süßigkeiten wie Schokolade zu packen, dazu Papierblock und Buntstifte, auch Handschuhe, Strümpfe, Schalls, warme Wäsche und ein persönlicher Gruß mit Foto. Die Sammelaktion lief in die Adventszeit hinein bzw gleichzeitigen Ramadan.  Es stapelten sich schließlich in der MLK, WBGS und Fatih-Moschee ganze Berge solcher Geschenkkartons: 1500 solche Pakete wurden am 21.12.99 in einem dank der Duisburger Familie Nigar/Zekir Yardim gesponserten LKW durch Zekir Yardim von Marl nach Adapazari transportiert, begleitet von Mustafa Akpinar und Adnan Saglik. Sie telefonierten am 28.12. von dort: „1.500 Menschen, 100 m lang die Menschenschlange beim Verteilen“.  Auch die tägliche Suppenküche wurde von uns finanziell unterstützt, ebenso finanzierten wir von Istanbul aus mehr als 200 Lebensmittelpakete mit Hirse, Mehl, Hülsenfrüchte, Öl, Margarine, Trockenhefe  (für 33 DM/Paket); eine vierköpfige Familie konnte davon eine Woche lang leben. Und im Interesse dauerhafter Hilfe finanzierte der Marler Aktionskreis für den OP-Saal im Krankenhaus ein Ultraschallgerät, in einer Stadtteil-bezogenen Gesundheits-Station einen zahnmedizinischen Behandlungsstuhl mit Bohrgerät. Auf unseren Wunsch hin wurden im Krankenhaus und in dieser Gesundheitsstation lange Zeit Erdbeben-verletzte Menschen kostenlos behandelt. Im Stadtteil Adapazari-Erenler mit dem ausgezeichneten Stadtteilbürgermeister Ekrem Yüce finanzierten wir auch noch die Neueinrichtung eines Jugendzentrums. (Ekrem Yüce ist ein gutes Beispiel: Solidarität wird nicht vergessen: als wir ihn nach fast 15 Jahren in Gireson wiedertrafen, wo einer zuständig für den Bau einer Autobahn durchs Gebirge war, liess er alles stehen und liegen und war ein großartiger Gast- und Ideengeber, er ist seit kurzem Oberbürgermeister in Adapazari).   Insgesamt erbrachten wir aus Marl Erdbebenhilfe im Gesamtwert von 500 000 DM und 6 Hilfstransporte nach Adapazari. Bernhard war beim 3. Transport engagiert dabei.

3.

Als „Chamäleon-Lehrer“ war Bernhard Weinmann lange Zeit in Marl so etwas wie eine Institution. Durch die bis hierher beschriebenen Aktivitäten und Netzwerke war Bernhard auch im Jugendheim an der Pauluskirche Marl-Hüls, der sog. „Teestube an der Bachstrasse“  mit SchülerInnen der MLK mit involviert. Mit ihnen fuhr er auch nach „Berchum“ zu Wochenendfreizeiten oder Projekt-Schulwochen. Nach manchen Gesprächen kam es in den 1990er Jahren zur Vereinbarung zwischen der esw (= Ev.SchülerInnenarbeit Westfalen) um deren Leiter Paul Gaffron und ESM-Jugendreferat (um den dort Verantwortlichen Ulrich Donath)/ Ev. Kirchengemeinde Marl-Hüls (Pfr. Hartmut Dreier, Pfr. Weert Hüttmann)/CIAG Marl und MLK (Schulleiter Klaus Jahn, Bernhard Weinmann). Vereinbart wurde: Marl und esw Berchum kooperieren so, dass einerseits für „Berchum“ in Marl mit gedacht wird und andererseits Marl in Berchum jederzeit einen bevorzugten Platz findet. Das ganze unter dem Vorzeichen der Jugendbildung im Sinne von „Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Nazis!“. Daraus erwuchs an der Martin Luther King Schule eine dauerhafte Außenstelle von „Berchum“, die bald auf Wunsch der dort aktiven Jugendlichen einen guten Namen bekam: „KBC – Kunterbuntes Chamäleon“. Recht bald verankerten wir auf Dauer im KBC Christian Grube als Leiter, er hatte sich bewährt als Honorarkraft im ESM-Jugendreferat und in der Teestube an der Bachstrasse.  Es entstanden schrittweise vertragliche Vereinbarungen und Strukturen: das KBC als eine von mehreren Außenstellen der esw-Berchum, mit anderen Worten: esw Berchum als Träger vom KBC und in vertrauensvoller Kooperation mit dem Jugendamt der Stadt Marl (sein immer hilfsbereiter Leiter Volker Mittmann), der MLK (Schulleitung mit Schulleiterin Brigitte Parras, Steuerungsgruppe MLK/kbc und CIAG Marl (diese koppelte die Arbeit zurück an die ESM).

In den ersten zehn Jahren war Bernhard Weinmann beständig unterwegs: seine Schule MLK, das Jugendkulturzentrum KBC, gemeinsame Projekte in Marl wie z.B. Schulaustausch zwischen Giresun (dem dortigen Anadolu Licesi) und der MLK, Abrahamsfeste (hier sorgte Bernhard immer dafür, dass das Abrahamsfest auch mit Veranstaltungen in der MLK vorkam) usw. Bernhard musste in dieser Mehrfach-Rolle irgendwann kürzer treten und die Reißleine ziehen. Er zog sich – gut beraten – zurück auf die rein innerschulische Existenz als Lehrer der MLK. Infolge der politischen Entwicklungen in der Türkei unter Präsident Erdogan waren keine Lehrkräfte der MLK zur Kooperation mit Gireson bereit; in der CIAG Marl wurde gleichzeitig die Zusammenarbeit mit der Türkei im Städtepartnerschaftsverein Marl-Kusadasi konzentriert. Die Trägerschaft des KBC wechselte in 2018 von  der esw Berchum zum Diakonischen Werk im Kirchenkreis RE. Dabei konnte Christian Grube aus formalen arbeitsrechtlichen Gründen leider nicht übernommen werden. An seine Stelle kam Michaela Rickert, sie entpuppte sich sehr bald als ein Glücksfall. Die Kooperation mit der MLK und die Gemeinwesenarbeit im Stadtteil Hüls-Süd (in der Regie der Sozialarbeiterin Ramona Glodschei)  wurden dabei stark verfestigt.

Der langen Rede kurzer Sinn: Bernhard Weinmanns seit Jahrzehnten leitende Idee hat Bestand und gerät unter neuen Vorzeichen von Menschen und Trägerstrukturen zur neuen Blüte: „Menschenbildung“ tut Not mit engagierten Persönlichkeiten. Schule leben im Stadtteil-Kontext. Schule gestalten als wohnlicher menschlicher Lebensraum der Heranwachsenden und im Zusammenspiel mit Lehrkräften.

Man kann auch sagen: Jede Schule braucht ein KBC. Jede Stadt braucht interkulturelle, interreligiöse Gemeinwesenarbeit als Friedensarbeit zur Überwindung von Rassismus, wie in Marl seit 1979 (Frauen begannen mit interkultureller Familienbildung an der Pauluskirche) bzw seit 1984 (Beginn der CIAG Marl) bzw seit 1994 (jährliches Begegnungsfest zum Antirassismustag der UNO am 21.März)  bzw seit 2001 (jährliches Abrahamsfest).

Dafür braucht es wagemutige Personen vom Schlage eines Bernhard Weinmann. Schon mal nervig, immer umtriebig. Immer vernetzend. Immer von Heranwachsenden her denkend. Niemals „Dienst nach Vorschrift“.  Danke Bernhard.

Gez. Hartmut Dreier (dieser Text ist geschrieben für die Festschrift zu Bernhard Weinmanns Wechsel in den Ruhestand  24.Jan. 2020)