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Sophie Scheytt

 

Die Toten auf dem Mittelmeer sind vermeidbar. Aber der politische Wille fehlt.

 

„Tagelang fuhr ich mit einem 2-jährigen, toten Jungen in der Tiefkühltruhe in internationalen Gewässern auf und ab, weil kein europäisches Land ihn retten wollte, als es noch möglich war und sie uns dann einen Hafen verwehrten. Seine Mutter war auch bei uns an Bord. Lebendig. Was sage ich einer traumatisierten Frau, deren Kind da in meinem Gefrierschrank liegt, über den Friedensnobelpreisträger EU?”

Das fragte Pia Klemp, Kapitänin der beiden NGO-Schiffe Iuventa und Sea-Watch 3 in einer Rede im Februar.

Es gibt Sachen, die man einer Mutter nicht erklären kann. Was man allerdings erklären kann, sind die tödlichen Folgen der europäischen Abschottungspolitik.

Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze auf der ganzen Welt. Gleichzeitig ist das zentrale Mittelmeer auch der am besten überwachte Seeraum auf der Welt. Das zeigt: Die Toten auf dem Mittelmeer sind vermeidbar, nur der politische Wille fehlt.

Mit unserer Arbeit dokumentieren wir die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, die unerträglichen Szenen, die sich Tag für Tag erneut abspielen. Gerade diese Dokumentation ist aber nicht gewollt.

Im Jahr 2016 gab es ganze 14 NGO-Schiffe, die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer geleistet haben, mittlerweile sind nicht einmal mehr eine Handvoll übrig. In diesem Moment befindet sich kein einziges Rettungsschiff im Einsatz. Warum?

Weil sich die europäischen Regierungen für jede einzelne NGO fadenscheinige Argumente überlegt haben, um sie an ihrer Arbeit zu hindern. Von angeblichen Flaggenrechtsproblemen über Menschenhandel zu Umweltverschmutzung – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Pia Klemp, unserer Kapitänin, drohen in Italien nun bis zu 20 Jahre Haft und Geldstrafen von 15.000 € pro gerettetem Menschen. Die Sea-Watch 3 kann derzeit nicht ausfahren, weil in den Niederlanden, unserem Flaggenstaat, eine Verordnung erlassen wurde, die ausschließlich an NGO-Schiffe erhöhte technische Anforderungen stellt. Wohlgemerkt ohne Übergangsfrist und ohne Beteiligung des Parlaments. Einem anderen NGO-Schiff, der „Aquarius“ wurde gleich zweimal innerhalb von wenigen Wochen die Flagge entzogen. Selbst Ärzte ohne Grenzen, eine der größten und ältesten Menschenrechtsorganisationen, die in Krisengebieten auf der ganzen Welt aktiv ist, schafft es nicht mehr an der europäischen Außengrenze humanitäre Hilfe zu leisten. Der Organisation wurde in Italien jüngst vorgeworfen, sie habe die Anziehsachen der Geflüchteten, die mit Krankheiten infiziert sein könnten, nicht ordnungsgemäß als Sondermüll entsorgt. Man muss weder Ärztin noch Jurist sein, um zu wissen, dass all diese Vorwürfe jeder Grundlage entbehren.

 

Neben Kriminalisierungskampagnen erfahren wir natürlich auch Unterstützung auf verschiedenen Ebenen. In einem Osterappell haben sich gerade erst über 200 Abgeordnete – immerhin ein Drittel des deutschen Bundestags – mit unserer Arbeit solidarisiert und Unterstützung für die zivile Seenotrettung gefordert. Jetzt müssen diesen Worten auch Taten folgen. Das Recht auf Leben ist kein Ostergeschenk, sondern ein unveräußerliches Menschenrecht, unabhängig von Pass und Hautfarbe.

 

Damit das Sterben auf dem Mittelmeer nicht zur Selbstverständlichkeit wird, brauchen wir Eure Unterstützung – und damit meine ich nicht (nur), dass Ihr Fördermitglied von Sea-Watch werden könnt, um unsere Arbeit direkt zu unterstützen. Tretet Menschen entgegen, die NGOs als kriminelle Schlepperbanden darstellen und damit den Boden für diese unmenschliche Politik bereiten. Setzt das Thema Seenotrettung immer wieder auf die politische Agenda. Unterstützt die Seebrücke-Bewegung im Ruhrgebiet, der sich bereits rund 50 Städte bundesweit angeschlossen haben. Hat sich Eure Stadt schon zu einem „sicheren Hafen“ erklärt, der Geflüchtete aus Seenot aufnehmen würde? Berlin und Brandenburg möchten nun ein humanitäres Aufnahmeprogramm für aus Seenot gerettete Menschen nach § 23 I Aufenthaltsgesetz aufstellen. In Nordrhein-Westfalen wurde ein entsprechender Antrag im Landtag Anfang April abgelehnt. Trotzdem zeigen die aktuellen Entwicklungen: Wir können auch auf kommunaler und auf Landesebene etwas verändern. Das Sterbenlassen auf dem Mittelmeer ist nicht Konsens, weder in Deutschland noch in Europa.

 

Die Unveräußerlichkeit von Menschenrechten darf 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht mehr zur Debatte stehen.

Was antworten wir unseren Kindern und Enkeln, wenn sie uns später ungläubig fragen, wie wir das Mittelmeer zum größten Friedhof Europas lassen werden konnten? Wie konnten wir zusehen, wie erst staatliche Rettungsprogramme abgeschafft und dann die privaten Retterinnen und Retter in Europas Gefängnisse gesteckt wurden? Wie konnten wir zulassen, dass unsere Steuergelder kriminellen libyschen Gruppen gezahlt wurden, damit sie uns vergewaltigend, folternd und mordend die Geflüchteten „vom Hals halten“?

Wir können dann nicht sagen, dass wir davon nichts wussten. Aber wir können jetzt dafür sorgen, dass wir ihnen sagen können: Wir haben uns diesem Unrecht entgegengestellt.

 

Sophie Scheytt, Leiterin der politischen Öffentlichkeitsarbeit von Sea-Watch in Deutschland