Geschichte

Ein Blick auf die Integrationsgeschichte der Stadt Marl

Marl ist eine Stadt (ca. 87t Einwohner) im nördlichen Ruhrgebiet und gehört zum Kreis Recklinghausen. Die Menschen hier blicken auf mehr als hundert Jahre Integrationserfahrung zurück mit allen Höhen und Tiefen. Die Ruhrfestspiele mit ihrer Strahlkraft geben ein lebendiges Zeugnis davon. Durch Bergbau und Chemieindustrie sind Arbeiter aus ganz Deutschland, aus Polen und dem damaligen Jugoslawien, später Italien, Griechenland und vor allem der Türkei zugezogen und haben ihre Religion und Kultur mitgebracht. Neben den inzwischen dezimierten katholischen und evangelischen Kirchen gibt es eine griechisch-orthodoxe Kirche und fünf Moschee Gemeinden. Die Fatih Moschee aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ist der erste neue Moscheebau (im klassischen orientalischen Stil) in Deutschland.

Die Tradition der interreligiösen, interkulturellen Gespräche und Zusammenarbeit in Marl hat eine beinahe 40jährige Geschichte. Den Samen hat der damalige Bürgermeister gelegt, der in der Anfangsphase fremdenfeindlicher Übergriffe in Deutschland zu einem „Runden Tisch“ aller in der Marler Gesellschaft Aktiven eingeladen hatte. Ein Keim, der sich daraus entwickelt hat, war die Christlich-Islamische Arbeitsgemeinschaft (CIAG). In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam mit dem Zuzug jüdischer Menschen aus der Ukraine und Russland die Jüdische Kultusgemeinde im Kreis Recklinghausen dazu und der Gedanke von der Verwurzelung in der Geschichte von Abraham als gemeinsamem Stammvater (deshalb heute CIJAG). Gegenseitige Besuche, Begegnungen, erst kleine gemeinsame Projekte, dann größere, Gedanken- und Erfahrungsaustausch waren und sind bis heute der Weg der Integration auch wenn wir inzwischen auf eine erfreuliche Geschichte der Vertrauensbildung zurückblicken. Gerade in Krisenzeiten fremden-, islamfeindlicher und antisemitischer Übergriffe hat sich dieses Vertrauen als tragfähig erwiesen und den Impuls zum Zusammenhalt verstärkt. Letztlich lebt die Bewegung/Arbeitsgemeinschaft aber – und das ist wahrscheinlich überall so – vom Engagement einzelner konkreter Personen, die, angetrieben von Freude an der Begegnung und der damit verbundenen Horizonterweiterung, die Vision einer inklusiven, solidarischen Gesellschaft, zur realen Erfahrung werden lassen – ein Stück weit wenigstens.
Möglichkeiten zur Begegnung, zu bereichernden Erfahrungen zu schaffen, Entdeckerfreude zu wecken und die Begeisterung an einer zusammenwachsenden, heiler werdenden Stadt-Gesellschaft weiterzugeben, ist deshalb ein/das wesentliche Ziel der interreligiösen, interkulturellen Arbeitsgemeinschaft und ein starker Impuls auch für das Projekt der Rundtouren. Zum Glück sind wir mit dem Bemühen nicht allein. Bemerkenswert ist, dass Anfragen nach Kooperation bei anderen gesellschaftlichen Akteuren und den Institutionen der Stadt in der Regel positiv beantwortet werden.

(Heidi Blessenohl)

„Ruth Weiss Symposium – Bildung gegen Antisemitismus und Rassismus an deutschen Schulen – der Beitrag von Ruth Weiss“, am 29. Nov. 2023, 14 – 17 Uhr, analog in Berlin und zugleich digital. 
 
Ruth Weiss war Referentin bei einem früheren Abrahamsfest in der Martin Luther King Schule Marl. Damals lebte sie in Lüdinghausen, heute lebt sie Angehörigen  in Dänemark;sie ist 99 Jahre. Sie musste mit ihrer jüdischen Familie aus Fürth 1935 fliehen, lebte in Südafrika, Zimbabwe und England, war tätig als Journalistin und unterstütze immer den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika und gegen den Kolonialismus. Beim Symposion am 29.Nov. 2023 sagte sie im Schlusswort: „Es darf keine Dritte Schuld in Deutschland geben: die Dritte Schuld wäre, wenn die Begegnung mit den Millionen Menschen aus andern Ländern, Kulturen und Religionen, die nun hier leben, nicht gelingt. Sie gehören dazu, sie sind Deutschland. Und sie müssen hier in der Lage sein, ihre eigene Kultur und Religion zu leben und weiter zu entwickeln, wie wir unsere jüdische Religion leben und weiter entwickeln. Sie verändern dabei auch Deutschland – und das ist gut“ (Sie nannte als Erste Schuld den Hitler-Nationalsozialismus, die Zweite Schuld (mit Ralph Giordano) das lange Schweigen über die Erste Schuld nach Ende des Nationalsozialismus, bis in die 1960er Jahre).